Das Märchen vom tyrannischen Drachen |
Es war einmal, da wurde unser Planet von einem riesigen Drachen tyrannisiert. Der Drache überragte selbst die höchste Kathedrale und war mit einem dicken Panzer aus schwarzen Schuppen bedeckt. Seine roten Augen glühten vor Hass und aus seinem furchtbaren Maul floss beständig ein übelriechender, gelblich-grüner Schleim. Er verlangte der Menschheit einen Furcht einflößenden Tribut ab: Um seinen gigantischen Appetit zu stillen, mußten jeden Tag beim Einbruch der Dunkelheit zehntausend Männer und Frauen zum Fuß des Berges gebracht werden, wo der tyrannische Drache lebte. Manchmal verschlang der Drache die Unglücklichen sofort; manchmal wiederum kerkerte er sie im Berg ein. Dort mußten sie Monate oder Jahre dahinsiechen, bis sie schließlich verspeist wurden.
Das Elend, das der tyrannische Drache brachte, war unermesslich. Zu den zehntausend, die jeden Tag grauenvoll abgeschlachtet wurden, kamen noch die Mütter, Väter, Ehefrauen und -männer, Kinder und Freunde, die als Hinterbliebene über den Verlust ihrer geliebten Menschen trauerten.
Manche versuchten, den Drachen zu bekämpfen, aber es war schwer zu sagen, ob sie das taten, weil sie tapfer oder weil sie töricht waren. Priester und Magier verfluchten das Untier oder versuchten es mit Zaubersprüchen, aber ohne Erfolg. Tapfere Krieger griffen den Drachen mit den besten Waffen an, die Schmiede fertigen konnten, wurden aber von seinem Feuer eingeäschert, bevor sie nahe genug gekommen waren, um tatsächlich etwas auszurichten. Chemiker entwickelten verschiedene Giftmischungen und brachten durch List den Drachen dazu, sie zu trinken, aber fast war es, als würde sein Appetit dadurch sogar noch weiter angeregt werden. Die Klauen des Drachen und sein feuriges Maul waren so schlagkräftig, seine Schuppen so undurchdringlich und seine ganze Natur so widerstandsfähig, dass er vor jedem Angriff der Menschen gefeit schien.
Da es nicht möglich war, den Tyrannen zu besiegen, blieb den Menschen keine andere Wahl, als seinen Befehlen zu gehorchen und den grausigen Blutzoll zu entrichten. Es waren immer ältere Leute, die als Opfer ausgesucht wurden. Obwohl die Alten genauso lebhaft und gesund wie die Jungen waren und manchmal weiser als diese, war man nämlich der Meinung, dass sie wenigstens bereits ein paar Jahrzehnte des Lebens genossen hatten. Reiche konnten möglicherweise einen kurzen Aufschub erwirken, indem sie die Truppen bestachen, deren Aufgabe es war, sie abzuholen; aber es gab ein Verfassungsgesetz dahingehend, dass niemand, nicht einmal der König, sich auf längere Sicht entziehen konnte, sollte die Reihe erst an ihm sein.
Spirituelle Menschen versuchten diejenigen zu trösten, die Angst davor hatten, vom Drachen gefressen zu werden (und das war eigentlich jeder, obwohl viele es nach außen hin abstritten), indem sie ein Leben nach dem Tod in Aussicht stellten, ein Leben ohne Drachenplage. Andere sagten, dass der Drache seinen Platz in der natürlichen Ordnung und ein moralisches Recht darauf hatte, gefüttert zu werden. Sie meinten, es gehöre zum Sinn des menschlichen Lebens, im Magen des Drachens zu enden. Wiederum andere behaupteten, der Drache wäre nützlich für die Menschheit, weil er die Bevölkerungszahl unter Kontrolle hielt. In welchem Ausmaß diese Argumente die Verängstigten beruhigen konnten, ist nicht bekannt. Die meisten Leute versuchten, sich damit zu behelfen, dass sie einfach nicht an das grauenvolle Ende dachten, das sie erwartete.
An diesem hoffnungslosen Zustand änderte sich für viele Jahrhunderte nichts. Niemand hatte mehr einen Überblick, wie hoch die Zahl der Todesopfer insgesamt war oder wieviele Tränen von den Trauernden vergossen worden waren. Die Erwartungen der Menschen hatten sich schrittweise angepaßt und der tyrannische Drache war nun einfach eine unumstößliche Tatsache des Lebens. Da Widerstand augenscheinlich sinnlos war, wurden die Versuche aufgegeben, den Drachen zu töten. Stattdessen bemühte man sich nun vor allem, ihn milde zu stimmen. Obwohl der Drache gelegentlich Städte angriff, fand man nämlich heraus, dass eine pünktliche Lieferung der vorherbestimmten Zahl an Menschen die Häufigkeit seiner Überfälle minderte.
Im Wissen, dass sie in Gefahr lebten, vom Drachen gefressen zu werden, begannen die Menschen nun, mehr und früher Kinder zu bekommen. Es kam nicht selten vor, dass ein Mädchen mit sechszehn Jahren bereits schwanger war. Viele Paare hatten ein Dutzend Kinder. Die Bevölkerungszahl schrumpfte dadurch nicht und man vermied, dass der Drache allzu hungrig wurde.
Im Laufe der Jahrhunderte wuchs der gutgenährte Drache langsam aber beständig. Er war nun fast so groß wie der Berg, auf dem er hauste. Sein Appetit hatte allerdings auch dementsprechend zugenommen. Zehntausend Menschen waren nicht mehr genug, um seinen Bauch zu füllen. Er verlangte nun achtzigtausend Opfer, die jeden Tag beim Einbruch der Dunkelheit am Fuß des Berges abzuliefern waren.
Was den König mehr beschäftigte als die Toten und der Drache, war der Organisationsaufwand, dessen es bedurfte, um so viele Menschen einzusammeln und jeden Tag zum Berg zu bringen. Das war beileibe keine leichte Aufgabe.
Um den Ablauf zu vereinfachen, ließ der König Zuggleise legen: Zwei gerade Linien aus glänzendem Stahl, die direkt zur Behausung des Drachens führten. Alle zwanzig Minuten kam ein Zug vollgestopft mit Menschen bei der Bergstation an und verließ sie leer. In monderleuchteten Nächten hätten die Passagiere dieser Züge eine Doppelsilhouette sehen können (wenn die Waggons denn Fenster gehabt hätten, aus denen man die Köpfe hätte stecken können), nämlich die des Drachens und die des Berges; außerdem noch zwei glühende rote Augen, die wie die Strahlen gigantischer Leuchttürme waren und die den Weg zur Vernichtung wiesen.
Der König hatte einen riesigen Verwaltungsapparat aufgebaut. Es gab Registrierbeamte, welche die Übersicht darüber behalten sollten, wer an der Reihe war, zum Drachen geschickt zu werden; weiters Stoßtruppen, die in speziellen Fahrzeugen losgeschickt wurden, um die Leute einzusammeln. Dabei waren sie oft mit halsbrecherischer Geschwindigkeit unterwegs und rasten mit ihrem menschlichen Frachtgut entweder zu einem Bahnhof oder direkt zum Berg. Weiters wären Sekretäre zu nennen, die Pensionen an jene Hinterbliebenen verteilten, für die nun gesorgt werden mußte. Außerdem waren da noch "Trosthelfer", die mit den Verdammten zum Drachen reisten und ihre Angst mit alkoholischen Getränken und Drogen zu mildern suchten.
Es gab jedoch auch richtiggehende Drachenwissenschaftler, die Drachologen, welche darüber nachdachten, wie denn die Organisation dieser Prozesse noch effizienter gemacht werden könnte. Einige Drachologen führten Studien an der Physiologie und dem Verhalten des Drachen durch und sammelten Proben: Schuppen, die er verloren hatte; der Schleim, der aus seinem Maul getropft war; Zähne; seine Exkremente, in denen noch Überreste von menschlichen Knochen zu finden waren. All dies wurde penibel katalogisiert und archiviert. Je mehr man von dem Ungeheuer wußte, desto desto sicherer war man sich, dass es unbesiegbar war, insbesondere wegen seiner schwarzen Schuppen, die härter als alle bekannten Materialien waren. Es schien unmöglich, diese Rüstung mehr als bloß anzukratzen.
Um alle diese Maßnahmen zu finanzieren, belastete der König seine Untertanen mit hohen Steuern. Die in Zusammenhang mit dem Drachen stehenden Ausgaben wuchsen noch schneller als der Drache selbst und betrugen schon ein Siebtel der gesamten Wirtschaftsleistung.
Der Mensch ist eine seltsame Spezies. Ab und zu hat jemand eine gute Idee. Andere ahmen diese Idee nach und verbessern sie. Im Laufe der Zeit werden auf diese Weise viele wundersame Werkzeuge und Verfahren entwickelt. Einige Gerätschaften - Rechenmaschinen, Thermometer, Mikroskope und Glaskolben, die Chemiker benutzen, um Flüssigkeiten zu destillieren und zum Siedepunkt zu bringen - machen es leichter, neue Ideen auszuprobieren, auch solche, die wiederum selbst den Prozess beschleunigen, durch den man neue Ideen haben kann.
Das große Rad der Erfindungen, das sich früher fast unmerklich gedreht hatte, begann nun, zunehmend schneller zu werden.
Weise Menschen sagten voraus, dass der Tag kommen würde, an dem es uns der technische Fortschritt ermöglichen würde, zu fliegen und andere erstaunliche Dinge zu tun. Einer dieser Weisen, der zwar von manchen der anderen Gelehrten hochgeschätzt wurde, den aber seine Eigenheiten zum gesellschaftlichen Außenseiter und Einsiedler gemacht hatten, glaubte sogar, dass zukünftige Technologien letztendlich den Tod des tyrannischen Drachen herbeiführen könnten.
Die königlichen Gelehrten lehnten diese Ideen jedoch ab. Sie meinten, dass Menschen viel zu schwer seien, um zu fliegen und überhaupt würden sie doch keine Federn haben. Und was die seltsame Ansicht betraf, der tyrannische Drache könnte getötet werden: Die Geschichtsbücher erzählten von unzähligen Versuchen, gerade das zu tun und keiner sei erfolgreich gewesen. "Wir wissen alle, dass dieser Mann einige unverantwortliche Ideen hatte", schrieb später ein Schriftgelehrter in seinem Nachruf auf den einsiedlerischen Weisen, der fortgeschickt worden war, um von genau jenem Untier verschlungen zu werden, dessen Tod er vorhergesagt hatte, "aber sein Werk war ziemlich unterhaltsam und vielleicht sollten wir dem Drachen sogar dankbar sein, weil er die interessante literarische Gattung des Drachenbeschimpfens erst möglich gemacht hat, die soviel über die Kultur der Angst aussagt!"
Währenddessen drehte sich das Rad der Erfindungen weiter. Bloß ein paar Jahrzehnte später flogen die Menschen tatsächlich und schafften noch andere erstaunliche Dinge.
Einige rebellische Drachologen begannen nun, sich für einen erneuten Angriff auf den tyrannischen Drachen einzusetzen. Den Drachen zu töten würde nicht einfach werden, meinten sie, aber wenn ein Material entwickelt werden könnte, das härter als die schuppige Rüstung des Drachens wäre und wenn dieses Material zu einer Art Projektil geformt werden könnte, dann wäre es vielleicht doch möglich. Zuerst wurden die Ideen der rebellischen Drachologen von ihren Kollegen zurückgewiesen, weil kein Material bekannt war, das härter als die Schuppen des Drachens war. Nachdem man aber viele Jahre an dem Problem gearbeitet hatte, schaffte es schließlich einer der Rebellen zu beweisen, dass Drachenschuppen von einem Gegenstand durchbohrt werden konnten, der aus einem bestimmten Verbundstoff gefertigt worden war. Viele der Drachologen, die vorher skeptisch gewesen waren, schlossen sich nun den Rebellen an. Ingenieure errechneten, dass ein riesiges Projektil aus diesem Material gefertigt werden und - mit ausreichend hoher Geschwindigkeit abgeschossen - den Schutzpanzer des Drachens durchdringen konnte. Den Verbundstoff in den benötigten Mengen herzustellen würde allerdings sehr kostspielig werden.
Eine Gruppe von berühmten Ingenieuren und Drachologen schickte eine Petition an den König, das Anti-Drachen-Projektil zu finanzieren. Zu der Zeit, als dieses Bittschreiben losgeschickt wurde, war der König gerade damit beschäftigt, seine Armee auf der Jagd nach einem Tiger anzuführen. Der Tiger hatte einen Bauer getötet und war danach in den Dschungel verschwunden. Am Land war die Furcht groß, dass der Tiger wieder auftauchen und erneut zuschlagen würde. Der König hatte den Dschungel umstellen lassen und befahl seinen Truppen, sich ihren Weg durch das Dickicht zu kämpfen. Am Ende des Feldzugs konnte der König verkünden, dass alle 163 Tiger im Dschungel, unter ihnen vermutlich auch das mörderische Tier, eingefangen und getötet worden waren. In der Aufregung war allerdings die Drachen-Petition verloren oder vergessen worden.
Die Bittsteller schickten deshalb ein weiteres Schreiben. Diesmal erhielten sie eine Antwort von einem der königlichen Sekretäre, die besagte, dass der König über die Sache nachdenken würde, wenn er mit der Prüfung des jährlichen Drachenverwaltungsbudgets fertig wäre. Das Budget jenes Jahres war so hoch wie nie zuvor und beinhaltete Geld für eine neue Zugstrecke zum Berg. Diese zweite Strecke war als notwendig erachtet worden, weil die erste den ständig zunehmenden Verkehr nicht mehr bewältigen konnte. (Der Blutzoll für den tyrannischen Drachen war auf hunderttausend Menschen erhöht worden, die beim Anbruch der Nacht an den Fuß des Berges gebracht werden mußten.) Als das Budget schließlich genehmigt worden war, kamen Berichte aus einem abgelegenen Teil des Landes, in dem ein Dorf von einer Klapperschlangen-Plage heimgesucht wurde. Der König mußte nun dringend seine Armee mobil machen und sich dieser neuen Bedrohung stellen. Die Anti-Drachen-Petition hingegen verstaubte in irgendeinem Aktenschrank in den königlichen Gewölben.
Die Gegner des Drachen trafen sich abermals und beratschlagten, was zu tun sei. Dabei war die Diskussion lebhaft und ging bis weit in die Nacht. Es war fast Tagesanbruch, als sie schließlich beschlossen, die Angelegenheit vors Volk zu bringen. In den darauffolgenden Wochen reisten sie durchs Land, hielten Vorträge und erklärten ihren Vorschlag jedem, der zuhören wollte. Zuerst waren die Leute skeptisch. Man hatte ihnen schließlich in der Schule erzählt, dass der tyrannische Drache unbesiegbar war und dass die Opfer, die er verlangte, als Teil des menschlichen Daseins akzeptiert werden mußten. Aber als sie von dem neuen Verbundstoff und von den Plänen für das Projektil erfuhren, wurden viele neugierig. Immer mehr Bürger kamen zu den Anti-Drachen-Vorträgen. Aktivisten begannen, öffentliche Kundgebungen zur Unterstützung des Vorschlags zu organisieren.
Als der König von diesen Demonstrationen durch Zeitungsberichte erfahren hatte, versammelte er seine Ratgeber und fragte sie, was sie von der Sache hielten. Sie unterrichteten ihn zwar von den Petitionen, die an ihn geschickt worden waren, erzählten aber andererseits, dass die Gegner des Drachens Störenfriede wären, deren Lehren Unruhe im Königreich stiften würden. Sie meinten weiterhin, dass es viel besser für die Ordnung im Staat wäre, wenn die Menschen sich mit der Unvermeidlichkeit des Tributs an den Drachen abfänden. Die Drachenverwaltung brachte viele Arbeitsplätze, die beim Tod des Ungeheuers verlorengehen würden und es müßte sich erst herausstellen, ob es denn einen Nutzen für die Gesellschaft hätte, sollte der Drache bezwungen werden. Jedenfalls waren die Schatzkammern des Königs nach den zwei Feldzügen und den voraussichtlichen Ausgaben für die zweite Bahnstrecke fast leer. Der König, der zu der Zeit wegen der Beseitigung der Klapperschlangen-Plage sehr beliebt war, hörte sich die Argumente seiner Ratgeber an, befürchtete jedoch, dass er die Unterstützung durch das Volk einbüßen würde, sollte es scheinen, er würde die Petition gegen den Drachen ganz übergehen. Darum entschied er sich für eine öffentliche Anhörung. Führende Drachologen, verschiedene Minister und der interessierte Teil der Bevölkerung wurden eingeladen, daran teilzunehmen.
Die Versammlung wurde kurz vor Weihnachten, am düstersten Tag des Jahres, im größten Saal des königlichen Schlosses abgehalten. Der Saal war bis auf den letzten Platz voll und die Leute drängten sich in den Gängen. Die Stimmung war so intensiv wie sonst nur in entscheidenden Sitzungen zu Kriegszeiten.
Nachdem der König die Anwesenden begrüßt hatte, überließ er das Podium der Wissenschaftlerin, die maßgeblich für die Petition verantwortlich war, einer Frau mit ernstem, fast strengem Gesichtsausdruck. Sie erklärte nun in klaren, einfachen Worten, wie das Projektil funktionieren würde und wie man eine genügende Menge des Verbundmaterials herstellen könnte. Wenn man Forschungsgelder in der Höhe bekommen würde, die man erbeten hatte, dann sollte es möglich sein, die Arbeit in fünfzehn bis zwanzig Jahren fertigzustellen. Mit noch besserer Finanzierung könnte es sehr wohl sein, die Sache in gerade einmal 12 Jahren zu erledigen. Völlige Sicherheit gab es allerdings nicht, dass alles so laufen würde, wie man es sich vorgestellt hatte. Die Menge folgte dem Vortrag der Frau aufmerksam.
Dann sprach der oberste königliche Berater in Moralfragen, ein Mann mit einer dröhnenden Stimme, die das Auditorium spielend füllen konnte:
"Laßt uns einmal davon ausgehen, dass diese Frau Recht hat in Bezug auf den wissenschaftlichen Teil des Projekts und dass es auch technisch möglich ist - obwohl, wie ich glaube, dies nicht wirklich bewiesen worden ist. Sie möchte, dass wir den Drachen loswerden. Anscheinend denkt sie, das Recht zu haben, nicht vom Drachen verschlungen zu werden. Wie eigensinning und anmaßend das doch ist. Die Endlichkeit des menschlichen Lebens ist ein Segen für jeden Einzelnen, ob er es weiß oder nicht. Auf den ersten Blick scheint es so, als käme es nur zu gelegen, den Drachen aus dem Weg zu räumen, aber in Wirklichkeit wäre das der Würde des Menschen sehr abträglich. Diese Besessenheit, den Drachen zu töten, hält uns davon ab, denjenigen Bestrebungen gerecht zu werden, die wir im Laufe unseres Lebens völlig natürlich haben, hält uns davon ab, ein gutes, erfülltes Leben zu wollen und nicht einfach nur ein längeres. Es ist erniedrigend, jawohl: erniedrigend, wenn ein Mensch seine mittelmäßige Existenz so lange wie möglich fortsetzen möchte, ohne sich Gedanken über die höheren Fragen zu machen, darüber, wofür man eigentlich lebt. Aber ich sage Euch, die Natur des Drachen ist es, Menschen zu fressen und die vorgebene Natur des Menschen ist wahrlich und in edler Weise dann erfüllt, wenn er vom Drachen gefressen wird..."
Das Publikum hörte dem hochdekorierten Redner respektvoll zu. Seine Formulierungen waren so eloquent, dass es schwer war, dem Gefühl zu widerstehen, hinter ihnen müßten tiefsinnige Gedanken stecken, obwohl niemand recht verstand, worin sie denn genau bestanden. Aber Worte, die von jemandem kamen, der so angesehen war und im Auftrag des Königs sprach, mußten bestimmt eine profunde Bedeutung haben.
Der nächste Redner war ein Weiser, der weithin sowohl seiner Güte und Sanftmut als auch seiner Spiritualität wegen respektiert wurde. Als er zum Podium schritt, rief ein kleiner Junge aus dem Publikum: "Der Drache ist böse!"
Die Eltern des Kindes erröteten und wollten, dass er ruhig ist und schimpften ihn aus. Aber der Weise sagte: "Laßt den Jungen sprechen. Er ist wahrscheinlich klüger als so ein alter Narr wie ich."
Zuerst fürchtete sich das Kind sehr und war auch zu verwirrt, um der Aufforderung Folge zu leisten. Aber als er das aufrichtig freundliche Lächeln des Weisen sah und dessen ausgestreckte Hand, nahm er sie und folgte dem Weisen auf das Podium. "Da haben wir ja einen tapferen kleinen Mann", sagte der Weise. "Hast Du Angst vor dem Drachen?"
"Ich möchte meine Oma wiederhaben", sagte das Kind.
"Hat Dir der Drache Deine Oma weggenommen?"
"Ja", sagte der Junge und in seinen großen, furchterfüllten Augen begannen sich Tränen zu zeigen. "Meine Oma hat mir versprochen, dass sie mir zeigt, wie man zu Weihnachten Lebkuchen bäckt. Sie hat gesagt, dass wir ein kleines Haus aus Lebkuchen machen mit kleinen Lebkuchenmenschen, die darin wohnen. Dann sind aber diese Männer in weißer Kleidung gekommen und die haben Oma zum Drachen mitgenommen...Der Drache ist böse und er frißt Menschen...Ich möchte meine Oma wiederhaben!"
An dieser Stelle weinte das Kind so heftig, dass der Weise es zu seinen Eltern zurückbringen mußte.
Es gab noch ein paar weitere Redner an diesem Abend, aber es war, als hätte das schlichte Zeugnis des Jungen wie ein Nadelstich die aufgeblasenen Phrasen der königlichen Minister zum Platzen gebracht. Das Volk unterstützte nun die Gegner des Drachens und am Ende sah sogar der König die Vernünftigkeit und Menschlichkeit ein, die ihrer Sache zugrundelagen. Zum Abschluss sagte er einfach nur: "Laßt es uns angehen!"
Als sich die Nachricht verbreitete, feierte man ausgelassen auf den Straßen. Diejenigen, die auf Seiten der Gegner des Drachens gewesen waren, beglückwünschten sich und tranken auf die Zukunft der Menschheit.
Am nächsten Morgen wachte eine Milliarde Menschen mit der Erkenntnis auf, dass sie noch vor der Fertigstellung des Projektils zum Drachen geschickt würden. Ein Wendepunkt war erreicht worden. Während nämlich zuvor die aktive Unterstützung der Drachengegner auf eine kleine Zahl von Visionären beschränkt gewesen war, wurde sie nun die wichtigste Sache und beschäftigte praktisch jedermann. Etwas eigentlich Abstraktes wie der "gemeinsame Wille" einer großen Zahl von Menschen gewann merkbar an Intensität und Fassbarkeit. Bei riesigen Kundgebungen sammelte man Geld für die Konstruktion des Projektils und drängte den König, die vom Staat für die Drachenbekämpfung bereitgestellten Mittel zu erhöhen. Dieser kam dem allgemeinen Wunsch nach. Bei seiner Neujahrsansprache verkündete er, dass er ein eigenes Gesetz verabschieden würde, mit dem Ziel, die finanzielle Unterstützung des Projekts auf hohem Niveau zu sichern; außerdem würde er sein Sommerschloss und weiteren Landbesitz verkaufen, um selbst einen hohen Betrag spenden zu können. "Ich glaube, dass dieses Land sich dem Ziel verpflichten sollte, es noch vor dem Ablauf dieses Jahrzehnts von der uralten Plage des tyrannischen Drachens zu befreien."
Und so begann ein technologisches Rennen gegen die Zeit. Das Konzept eines Anti-Drachen-Projektils war einfach, aber es in die Tat umzusetzen, erforderte die Lösung tausender technischer Detailprobleme, von denen jedes zeitaufwändige und sehr oft erfolglose Versuchsreihen brauchte. Testraketen wurden abgefeuert, die aber fast gleich wieder auf die Erde fielen oder gar in die falsche Richtung flogen. Bei einem tragischen Unfall schlug eine fehlgeleitete Rakete in ein Krankenhaus ein und tötete hunderte Menschen. Aber es gab nun tatsächlich eine wilde Entschlossenheit im Kampf gegen den Drachen und die Tests gingen weiter, sogar noch während man die Leichen aus den Trümmern barg.
Trotz der fast unbeschränkten Mittel und obwohl die Techniker rund um die Uhr arbeiteten, konnte die vom König gesetzte Frist nicht eingehalten werden. Das Jahrzehnt ging vorüber und der Drache war immer noch am Leben und wohlauf. Aber die Anstrengungen begannen, Früchte zu tragen. Ein Prototyp der Rakete war erfolgreich gezündet worden. Der Projektil-Kern - gefertigt aus dem teuren Verbundmaterial - würde zeitgleich mit der voll ausgetesteten Hülle fertig sein, in die er dann eingesetzt werden sollte. Der Abschuss der Rakete war für Silvester des nächsten Jahres geplant, genau zwölf Jahre nach Beginn des Projekts. Das am meisten gekaufte Weihnachtsgeschenk jenes Jahres war ein Kalender, der in einem Countdown die Tage bis zur Stunde Null auflistete, wobei die Gewinne aus dem Verkauf ins Projektil-Projekt flossen.
Der König hatte sich gegenüber seinen leichtfertigen und gedankenlosen Tagen von früher sehr verändert. Er verbrachte nun soviel Zeit wie möglich in den Labors und den Fabriken, ermutigte dabei die Arbeiter und lobte die Mühe, die sie sich gaben. Manchmal nahm er einen Schlafsack mit und übernachtete auf dem Boden einer lauten Fertigungshalle. Er versuchte sogar, die technischen Aspekte ihrer Arbeit genau zu verstehen und beschäftigte sich eingehend damit. Aber der König beschränkte sich auf moralische Unterstützung und mischte sich nicht in technische oder organisatorische Angelegenheiten ein.
Sieben Tage vor Silvester kam jene Frau, die sich zwölf Jahre vorher so für das Projekt eingesetzt hatte und mittlerweile dessen Leiterin war, zum königlichen Schloss und erbat eine dringliche Audienz beim König. Als dieser ihre Mitteilung sah, entschuldigte er sich bei den ausländischen Würdenträgern, die er nur widerwillig wegen des weihnachtlichen Festessens empfangen hatte, und eilte sofort zu seinen Gemächern, wo die Wissenschaftlerin bereits auf ihn wartete. Wie immer in letzter Zeit sah sie bleich und erschöpft aus vom vielen Arbeiten. An diesem Abend glaubte der König jedoch eine Spur von Erleichterung und Zufriedenheit in ihren Augen zu erkennen.
Sie erzählte ihm, dass die Rakete aufgestellt worden sei. Der Kern wäre auch bereits eingesetzt und alles war doppelt und dreifach überprüft worden. Sie waren nun bereit, die Rakete zu zünden und warteten nur mehr auf die Einwilligung des Königs. Dieser ließ sich in einen Polstersessel fallen und schloss seine Augen. Er dachte angestrengt nach. Würde man das Projektil heute, eine Woche früher als geplant, abschießen, dann rettete man siebenhunderttausend Menschen das Leben. Wenn aber irgendetwas schief lief, wenn die Rakete ihr Ziel verfehlte und stattdessen in den Berg einschlug, dann wäre das eine Katastrophe. Man müßte wieder ganz von vorne anfangen und einen neuen Kern bauen. Das Projekt würde um gute vier Jahre zurückgeworfen werden. Der König saß stumm da und das fast eine Stunde lang. Gerade als die Wissenschaftlerin glaubte, dass er eingeschlafen war, öffnete er seine Augen und sagte mit fester Stimme: "Nein. Ich möchte, dass Sie ins Labor zurückgehen und alles prüfen und wenn Sie damit fertig sind, machen Sie einen weiteren Testdurchgang." Die Wissenschaftlerin seufzte unwillkürlich, nickte aber und ging.
Der letzte Tag des Jahres war kalt und bewölkt, andererseits jedoch windstill, was gute Startbedingungen für die Rakete bedeutete. Die Sonne ging unter. Techniker hasteten umher und nahmen letzte Einstellungen und Tests vor. Der König und seine engsten Ratgeber beobachteten die Abschussrampe von einer Plattform aus. Weiter weg, hinter einem Zaun, hatte sich eine große Zahl von Menschen versammelt, um dem monumentalen Ereignis beizuwohnen. Eine riesige Uhr zeigte den Countdown an: Es blieben noch 50 Minuten.
Ein Ratgeber klopfte dem König auf die Schulter und zeigte zum Zaun hin. Dort herrschte Aufregung, weil jemand über die Absperrung gestiegen war und nun auf die Plattform des Königs zulief. Die Sicherheitskräfte holten den Mann allerdings bald ein. Er wurde in Handschellen gelegt und abgeführt. Der König wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Abschussrampe zu. Auf dem Berg wiederum konnte er durch das Schattenprofil des Drachens sehen, dass dieser über etwas gebeugt war. Er war gerade beim Fressen.
Etwa zwanzig Minuten später tauchte der Mann mit den Handschellen zur Überraschung des Königs wieder auf, diesmal sogar direkt vor der Plattform. Seine Nase blutete und zwei Wächter waren bei ihm. Der Mann raste vor Aufregung. Als er den König erblickte, rief er, so laut er nur konnte: "Der letzte Zug! Der letzte Zug! Stoppt den letzten Zug!"
"Wer ist dieser junge Mann?" fragte der König. "Sein Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern. Was möchte er? Laßt ihn heraufkommen."
Der junge Mann war ein Büroangestellter aus dem Verkehrsminsterium. Er war deshalb so außer sich, weil er erfahren hatte, dass sein Vater sich im letzten Zug befand, der zum Berg unterwegs war. Der König hatte angeordnet, dass der Zugverkehr wie üblich weitergehen sollte, da er befürchtete, jede Unterbrechung könnte den Drachen dazu bewegen, das ungeschützte Feld zu verlassen, auf dem er sich nun die meiste Zeit aufhielt. Der junge Mann flehte den Köng an, den letzten Zug aufzuhalten, der fünf Minuten vor dem Abschuss der Rakete am Berg ankommen sollte.
"Das kann ich nicht machen", sagte der König. "Ich darf kein Risiko eingehen."
"Aber die Züge verspäten sich doch regelmäßig um fünf Minuten. Der Drache wird das gar nicht bemerken! Bitte!"
Der junge Mann kniete nun vor dem König und bat inständig, das Leben seines Vaters und das der tausend anderen Menschen zu retten, die sich ebenfalls im letzten Zug befanden.
Der König sah hinunter auf das blutige Gesicht des flehenden jungen Mannes. Aber er preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Der junge Mann fuhr in seinem Wehklagen fort, auch dann, als ihn die Wächter von der Plattform wegzerrten: "Bitte! Stoppt den letzten Zug! Bitte!"
Der König stand schweigend und bewegungslos da, bis nach einer Weile das Wimmern plötzlich aufhörte. Der König blickte auf und ließ seinen Blick über die Uhr mit dem Countdown schweifen: Noch fünf Minuten.
Vier Minuten. Drei Minuten. Zwei Minuten.
Nun verließ der letzte Techniker die Abschussrampe.
30 Sekunden. 20 Sekunden. Zehn, neun, acht,...
Als ein Feuerball die Abschussrampe einhüllte und das Projektil abgeschossen worden war, stellten sich die Zuseher unwillkürlich auf die Zehenspitzen und richteten ihre Blicke auf den Nachbrenner der Rakete, dessen weisse Flamme in Richtung des Berges unterwegs war. Für die wartenden Massen, für den König, für Menschen hoher und niederer Abstammung, für alt und jung, schien es, als würden sie in diesem Moment eine Erfahrung miteinander teilen: Die Flamme, die ins Dunkel hineinschoss, verkörperte den menschlichen Geist, seine Ängste und Hoffnungen...und sie schlug nun ins Herz des Bösen ein. Die Silhouette am Horizont taumelte und fiel schließlich in sich zusammen. Tausendfach hörte man die Stimmen reiner Freude vom versammelten Volk, in die sich Sekunden später ein ohrenbetäubender, lang nachhallender Knall vom Sturz des Monsters mischte. Es schien, als würde die Erde selbst vor Erleichterung aufseufzen. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung war die Menschheit endlich von der grausamen Tyrannei des Drachens befreit.
Die Freudenschreie gingen in einen jubelnden Sprechgesang über: "Lang lebe der König! Lang sollen wir alle leben!" Auch die königlichen Ratgeber waren in dieser Nacht glücklich wie Kinder. Sie umarmten sich gegenseitig und beglückwünschten den König: "Wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft!"
Aber der König antwortete mit gebrochener Stimme: "Ja, wir haben es geschafft. Wir den Drachen heute getötet. Aber, verdammt noch mal, warum haben wir das erst so spät gemacht? Wir hätten es fünf, vielleicht sogar zehn Jahre früher tun können. Millionen von Menschen hätten nicht sterben müssen."
Der König stieg von der Plattform hinunter und ging zu dem gefesselten jungen Mann, der am Boden kauerte. Dann fiel der König seinerseits auf die Knie. "Vergib mir! Oh Gott, bitte vergib mir!"
Es begann zu regnen. Große, schwere Regentropfen verwandelten den Boden in Schlamm, durchnäßten die purpurne Robe des Königs und wuschen das Blut aus dem Gesicht des jungen Mannes. "Es tut mir so furchtbar leid um Deinen Vater", sagte der König.
"Es ist nicht Eure Schuld", antwortete der junge Mann. "Vor zwölf Jahren im Schloß, erinnert Ihr Euch? Das weinende Kind, welches Euch bat, ihm seine Großmutter zurückzugeben - das war ich. Damals habe ich nicht begriffen, dass Ihr unmöglich meine Bitte erfüllen konntet. Heute wollte ich, dass Ihr meinen Vater rettet. Aber das war ebensowenig möglich, weil der Erfolg unserer Mission nicht gefährdet werden durfte. Ihr habt mein Leben, das meiner Mutter und das meiner Schwester gerettet. Wie können wir Euch je genug dafür danken?"
"Hör sie Dir an", sagte der König und deutete auf die Menge. "Sie jubeln mir zu für das, was heute Nacht geschehen ist. Aber der Held bist Du. Du hast damals Deine Stimme erhoben. Du hast es geschafft, dass wir uns gegen das Böse aufgelehnt haben." Der König winkte einen Wächter herbei und ließ die Handschellen des jungen Mannes öffnen. "Geh nun zu Deiner Mutter und Deiner Schwester. Du und Deine Familie sind auf meinem Hof immer willkommen und alle Deine Wünschen sollen erfüllt werden, sofern es in meiner Macht steht."
Der junge Mann ging und das königliche Gefolge versammelte sich dichtgedrängt um seinen Monarchen, der noch im Schlamm kniete. Durch den Regen nahmen ihre feinen Gewänder immer mehr Schaden. In einigen gepuderten Gesichtern drückte sich eine Mischung von Freude, Erleichterung und Verwirrung aus. So viel hatte sich in der letzten Stunde verändert: Das Recht auf eine offene Zukunft war wiedergewonnen, eine uralte Bedrohung war beseitigt worden und viele seit langer Zeit bestehende Ansichten waren ungültig geworden. Nun wußten sie nicht, was sie in dieser ungewohnten Situation tun sollten und standen unsicher herum, gerade so, als würden sie ausprobieren, ob sie der Boden noch trug. Dabei tauschten sie Blicke aus und warteten auf irgendein Zeichen.
Schließlich erhob sich der König. Er wischte sich die Hände an seinen Beinkleidern ab.
"Eure Majestät, was machen wir nun?" wagte der Rangälteste der Höflinge zu fragen.
"Meine lieben Freunde", sagte der König. "Wir haben bereits viel erreicht...und trotzdem hat unsere Reise erst begonnen. Wir als Spezies sind noch jung. Heute sind wir wieder wie Kinder, weil unsere Zukunft so voller Möglichkeiten ist. Wir sollten uns aufrichtig vornehmen, die Zukunft besser als die Vergangenheit zu gestalten. Nun haben wir Zeit - Zeit, um die Dinge richtig zu machen; Zeit, erwachsen zu werden; Zeit, aus unseren Fehlern zu lernen; Zeit für den mühsamen Prozess, eine bessere Welt zu schaffen - und Zeit es uns in ihr einzurichten. Laßt uns heute bis Mitternacht alle Glocken im Königreich zum Andenken an unsere toten Vorfahren läuten und danach laßt uns feiern bis die Sonne aufgeht. Und was die kommenden Tage betrifft...Nun, ich denke, wir haben Einiges zu reorganisieren!"
* * *
FAZITGeschichten über das Altern beschränken sich normalerweise auf den Rat, die Tatsachen in Würde hinzunehmen. Man solle sich bemühen, die eigenen Angelegenheiten noch selbst zu ordnen, aber ansonsten abnehmende Lebenskraft und den nahenden Tod einfach akzeptieren. Wenn man in Betracht zieht, dass nicht viel getan werden konnte, um das Altern zu verhindern oder signifikant hinauszuzögern, dann hatte diese Art, die Dinge zu betrachten, durchaus Sinn. Statt sich den Kopf über das Unausweichliche zu zerbrechen, war wenigstens innerer Friede möglich.
Heute hat sich die Lage allerdings verändert. Obwohl wir noch keine effektiven und sicheren Möglichkeiten haben, den menschlichen Alterungsprozeß [1] zu verlangsamen, können wir doch Richtungen in der Forschung ausmachen, um genau diese Mittel in absehbarer Zukunft zu entwickeln. "Todesbejahende" Geschichten und Ideologien, die zur passiven Akzeptanz anhalten, sind nicht länger harmlose Quellen des Trostes. Sie sind fatale Hindernisse für dringend notwendiges Handeln.
Viele angesehene Technologie-Experten und Wissenschaftler sagen voraus, dass es möglich sein wird, den menschlichen Alterungsprozeß [2] aufzuhalten und schließlich sogar rückgängig zu machen. Gegenwärtig gibt es jedoch wenig Übereinstimmung bezüglich des Zeithorizontes innerhalb dessen oder der genauen Hilfsmittel, mit denen wir das Ziel erreichen könnten. Nicht einmal darüber, ob es überhaupt erreichbar ist, gibt es einen allgemeinen Konsens. Bezugnehmend auf das Märchen (der Drache ist natürlich ein Symbol für das Altern), sind wir daher irgendwo zwischen dem Punkt, an dem der weise Eremit ganz allein den letztendlichen Tod des Drachens voraussagte und der Stelle, an der die rebellischen Drachologen ihre Kollegen überzeugten, indem sie ihnen die Pläne für das Verbundmaterial zeigten, das härter als die Schuppen des Drachen werden sollte.
Das ethische Argument des Märchens ist einfach: Es gibt offensichtliche und moralisch zwingende Gründe für die Menschen im Märchen, den Drachen loszuwerden. Unsere Situation hinsichtlich des menschlichen Alterungsprozesses ist analog und ethisch isomorph zur Situation der Menschen im Märchen in Bezug zum Drachen. Darum haben wir überzeugende moralische Gründen, uns vom Alterungsprozeß zu befreien.
Ich argumentiere nicht für Lebensverlängerung per se, also um jeden Preis. Der Sinn von zusätzlichen Jahren voller Krankheiten und Gebrechlichkeit am Ende unseres Lebens ist sehr fragwürdig. Es geht um die möglichst große Ausdehnung der gesunden Lebensspanne. Indem wir den Alterungsprozeß verlangsamen oder aufhalten, verlängern wir unsere gesunde Lebensdauer. Menschen würden gesund, vital und produktiv in einem Alter sein, in dem sie ansonsten bereits tot wären.
Zusätzlich zu diesem allgemeinen Fazit der Geschichte möchte ich noch eine Reihe von spezifischeren Argumenten machen:
(1) Eine immer wiederkehrende Tragödie wurde zum Fakt des Lebens, zu einer Statistik. Im Märchen passten sich die Erwartungen der Menschen bis zu einem solchen Grad an die Existenz des Drachens an, dass sie nicht mehr fähig waren, das Schlechte an ihm zu erkennen. Ebenso ist das Altern zu einem bloßen "Faktum des Lebens" geworden - obwohl es der Hauptverursacher für unvorstellbares menschliches Leid ist.
(2) Eine statische Auffassung von Technologie. Die Menschen glaubten, dass es niemals möglich sein würde, den Drachen zu töten, bloß weil in der Vergangenheit alle Versuche dazu fehlgeschlagen waren. Sie machten dabei den Fehler, den sich beschleunigenden technischen Fortschritt nicht zu beachten. Läßt uns ein ähnlicher Fehler die Chancen auf Mittel gegen das Altern unterschätzen?
(3) Verwaltung wurde zum Selbstzweck. Ein Siebtel der finanziellen Ressourcen wurde auf die Verwaltung des Drachenproblems verwendet. (Das ist übrigens auch genau der Anteil am Bruttonationalprodukt der USA, der in das Gesundheitssystem gesteckt wird.) Der Fokus wurde in einem derartigen Ausmaß auf die Schadensbegrenzung gerichtet, dass man den Blick auf die zugrundeliegenden Ursachen vernachlässigte. Statt mit öffentlichen Geldern in großem Maßstab Forschungsprojekte zu finanzieren, die sich zum Ziel setzen, das Altern zu bekämpfen, stecken wir fast alle diesbezüglichen Mittel in das konventionelle Gesundheitssystem und in die Bekämpfung einzelner Krankheiten.
(4) Das Wohl der Gesellschaft wurde getrennt gesehen vom Wohl der Menschen. Die königlichen Berater machten sich Sorgen über die möglichen sozialen Probleme, die die Gegner des Drachens verursachen hätten können. Sie meinten, dass aus dem Tod des Drachens kein Nutzen für die Gesellschaft enstehen könnte. Letztendlich gibt es gesellschaftliche Ordnungen aber zum Wohl der Menschen und generell gesehen ist es in deren Interesse, am Leben zu bleiben.
(5) Das Fehlen eines Gespürs für Verhältnismäßigkeit. Ein Tiger tötete einen Bauern. Ein Dorf hatte eine Klapperschlangenplage zu erdulden. Der König sorgte dafür, dass man den Tiger und die Schlangen loswurde und erwies damit seinen Untertanen einen Dienst. Und trotzdem war er im Unrecht, weil seine Prioritäten nicht in Ordnung waren.
(6) Phrasen und hohle Rhetorik. Der königliche Berater für Fragen der Moral sprach eloquent von menschlicher Würde und der vordefinierten Natur unserer Spezies in Formulierungen, die fast wortwörtlich aus den Stellungsnahmen seines zeitgenössischen Pendants stammen [3]. Es handelte sich dabei aber nur um eine rhetorische Nebelwand, die verschleiern sollte, anstatt die Realität zu beschreiben. Das weniger redegewandte, aber ehrliche Zeugnis des Kindes weist im Gegensatz dazu auf die zentralen Punkte im Fall hin: Der Drache ist böse. Er tötet Menschen. Dies ist auch die grundsätzliche Wahrheit über das menschliche Altern.
(7) Fehleinschätzung der Dringlichkeit eines Problems. Lange erkannte niemand in der Geschichte, was eigentlich auf dem Spiel stand. Erst als er in das blutige Gesicht des bittenden jungen Mannes starrte, erkannte der König das Ausmaß der Tragödie. Die Suche nach einem Heilmittel gegen das Altern ist nicht eine nette Sache, für die wir uns vielleicht eines Tages Zeit nehmen sollten. Es ist ein moralischer Imperativ, der förmlich vor Dringlichkeit schreit. Je früher wir mit einer konzentrierten Forschungsanstrengung beginnen, desto früher werden wir Resultate bekommen. Es macht einen Unterschied aus, ob wir das Mittel in 25 statt in 24 Jahren erhalten: Menschen in einer Anzahl größer als die Bevölkerung Kanadas würden in diesem Fall zusätzlich sterben müssen. In dieser Angelegenheit ist Zeit gleich Leben und zwar in einer Rate von ungefähr 70 Menschen pro Minute. Mit einem solch gespenstisch-bedrohlichen Zähler im Hintergrund sollten wir in jedem Fall aufhören, herumzutrödeln.
(8) "Und in den kommenden Tagen...Nun, ich denke, wir haben Einiges zu reorganisieren!" Der König und seine Untertanen werden sich großen Herausforderungen stellen müssen, wenn sie erst ihre Feiern beendet haben. Ihre Gesellschaft war durch die Gegenwart des Drachens so konditioniert und deformiert worden, dass es nun eine furchterregende Leere gibt. Sie werden mit Erfindungsgabe an die Arbeit gehen müssen, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene, um Bedingungen zu schaffen, die das Leben der Menschen dynamisch halten und ihm über die üblichen 70 oder 80 Jahre hinaus Bedeutung geben. Glücklicherweise ist der menschliche Geist sehr anpassungsfähig. Ein anderes Problem, das sie früher oder später wohl haben werden, ist das der Überbevölkerung. Vielleicht werden die Menschen weniger und später Kinder bekommen. Vielleicht werden sie die Lebensgrundlage für eine größere Weltbevölkerung durch die effizientere Nutzung von Technologie finden. Vielleicht werden sie Raumschiffe entwickeln, mit denen sie eines Tages den Kosmos kolonialisieren können. Verlassen wir aber nun die sehr langlebigen Menschen des Märchens, die sich ihren neuen Herausforderungen stellen, während wir versuchen, Fortschritte in unserem eigenen Abenteuer zu machen.[4]
Wie Sie helfen können
1. Betreiben Sie Mundpropaganda. Linken Sie bitte auf diese Seite, wenn Sie eine Homepage oder einen Weblog haben. Tauschen Sie sich mit Freunden und Kollegen aus. Schreiben Sie Briefe an Redakteure und kommentieren Sie Artikel, die positiv über das Thema Langlebigkeit berichten. Hinterfragen Sie höhnische und kurzsichtige Bemerkungen über die Altersproblematik, wenn es Ihnen angemessen erscheint. Rühren Sie sich und werden Sie aktiv.
2. Werden Sie organisatorisch tätig. Wenn Sie in irgendeiner Organisation sind (z.B. in einer Partei, einer religiösen Gemeinschaft, einer Berufsvereinigung), dann überlegen Sie, wie sie innerhalb dieser Gruppe Unterstützung für die Verlängerung der gesunden Lebensspanne und der dafür nötigen Forschung finden können.
3. Spenden Sie. Überlegen Sie, ob Sie für den Methuselah Mouse Prize spenden möchten. Dieser Geldpreis wird für die Verlängerung der verbliebenen Lebensspanne einer Maus verliehen, die sich bei Beginn ihrer Behandlung bereits im mittleren Alter befindet. Wissenschaftspreise waren bisher sehr erfolgreich dabei, Fortschritt anzuregen. Ein deutlicher Erfolg bei Mäusen würde den Weg für umfangreichere Programme ebnen, diese Methoden auf den Menschen zu übertragen.
4. Übernehmen Sie Verantwortung. Wenn Sie ein Philantrop sind und über dementsprechende Geldmittel verfügen, haben Sie die Chance, großen Einfluss auszuüben. Ähnliches gilt, wenn Sie z.B. Journalist oder ein "Opinion Leader", Regierungsbeamter oder eine wissenschaftliche Autorität sind, oder sich im Gremium einer größeren Wissenschaftsorganisation befinden. Dann haben Sie besondere Möglichkeiten, auf andere Menschen Einfluss zu nehmen und daher auch eine größere Verantwortung, Initiative zu zeigen.
5. Denken Sie kreativ. Machen Sie sich selbständig Gedanken darüber, wie Sie am besten beitragen könnten.
[1] Kalorische Restriktion (eine Diät, die kalorienarm, aber reich an Nährstoffen ist) hat bei allen bisher getesten Spezies die maximale Lebensdauer verlängert und das Auftreten altersbedingter Krankheiten hinausgezögert. Vorläufige Ergebnisse von noch nicht abgeschlossenen Studien an Rhesusaffen und Totenkopfaffen zeigen ähnliche Effekte von KR. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass diese Ernährungsweise bei uns Menschen ebenfalls wirken würde. Allerdings werden sich wohl nur die wenigsten Menschen auf eine lebenslange Hunger-Diät einlassen. Einige Forscher suchen nach Wirkstoffen, um Kalorische Restriktion nachzuahmen, um also die Effekte der verringerten Kalorienzufuhr zu erlangen, ohne dass wir dabei ständig hungrig sein müssen. (Siehe z.B. Lane, M. et al. (1999) "Nutritional modulation of aging in nonhuman primates", J. Nutr. Health & Aging, 3(2): 69-76.)[2] Eine Meinungsfrage beim 10. Kongress der Internationalen Vereinigung für Biomedizinische Gerontologie hatte folgendes Ergebis: Eine Mehrheit der Teilnehmer hielt es entweder für wahrscheinlich oder "nicht unwahrscheinlich", dass umfassende, funktionelle Verjüngung von Mäusen im mittleren Alter innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren möglich sein wird (de Grey, A. (2004), “Report of open discussion on the future of life extension research,” (Annals NY Acad. Sci., 1019, in press)). Siehe auch z.B. de Grey, A., B. Ames, et al. (2002) "Time to talk SENS: critiquing the immutability of human aging", Increasing Healthy Life Span: Conventional Measures and Slowing the Innate Aging Process: Ninth Congress of the International Association of Biomedical Gerontology, ed. D. Harman (Annals NY Acad. Sci. 959: 452-462); und Freitas Jr., R. A., Nanomedicine, Vol. 1 (Landes Bioscience: Georgetown, TX, 1999).
[3] Siehe z.B. Kass, L. (2003) Ageless Bodies, Happy Souls: Biotechnology and the Pursuit of Perfection, The New Atlantis, 1.
[4] Ich bin vielen Menschen dankbar, die erste Entwürfe dieses Märchens kommentiert haben, besonders Heather Bradshaw, Roger Crisp, Aubrey de Grey, Katrien Devolder, Joel Garreau, John Harris, Andrea Landfried, Toby Ord, Susan Rogers, Julian Savulescu, Ian Watson, and Kip Werking. Besonders dankbar bin ich auch Adi Berman, Pierino Forno, Didier Coeurnelle, und allen anderen, die das Märchen in ihre jeweiligen Sprachen übersetzt haben, ebenso wie denjenigen Personen, die bei der oben angesprochenen Mundpropaganda oder generell durch ihre Ermunterung und Anregungungen geholfen haben.
(Übersetzung: Franz Fuchs, 2010)